Zeitspuren
Zeitspuren (Timetraces) for piano trio (violin, cello and piano), 2018
I: Präludium (Spiegel), Prelude (mirror)
II: Farben, Colors
III: Scherzo burlesco
IV: Adagio molto cantabile
V: Jumpin
15:15′
Edition Kunzelmann, GM-1947
Commissioned by the Swiss Piano Trio.
Premiere: November 21, 2018, Swiss Chamber Concerts, Church St. Peter, Zurich (Swiss Piano Trio: Angela Golubeva, Joël Marosi, Martin Lucas Staub).
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«Zeitspuren» ist im Auftrag des Schweizer Klaviertrios entstanden. Mit dem Auftrag hat das Trio den Wunsch verbunden, die neue Komposition auf die Klaviertrio-Musik von Ludwig van Beethoven zu beziehen. Diesem Wunsch entsprach ich gerne, da ich in meinen letzten Werken sehr oft mit Referenzstücken aus der Klassik/Romantik gearbeitet habe.
Was ist es, was mich zu dieser „historischen“ Kompositionsweise hinzieht? Zuerst einmal fällt auf, dass ich dies erst mit zunehmendem Alter begonnen habe, früher haben mich solche Bezüge nicht interessiert. Erst im Alter von über fünfzig kündigt sich das Interesse an Bezugspunkten aus der Musikgeschichte für mein Komponieren langsam an. Deutlich ist es im Doppelkonzert «Streams» (2010) und vor allem dem Klarinettenquintett «The Five Points» (2012), das sich an verschiedenen Stellen auf das Brahms-Quintett bezieht. Seither ist die Bezugnahme auf Historisches zu einem bestimmenden Merkmal meines Musikschreibens geworden. So auch in «Zeitspuren», das bereits im Titel auf dieses Phänomen hinweist. Vor Beginn der eigentlichen Kompositionsarbeit habe ich alle Trios von Beethoven mit der Fragestellung im Kopf gehört „Was kann ich gebrauchen?“ Daraus ist ein Katalog von Möglichkeiten entstanden, den ich später selektiv und spontan benutzt habe.
Dieses auf Motive früherer Komponisten Zurückgreifen hat für mich aber noch eine weitere Bedeutung: es hilft den Horror vacui des Anfangens zu überwinden. Indem so Anhaltspunkte für mögliche Abschnitte der neuen Komposition auftauchen, hilft es dem bedrängenden Gefühl des „anything goes“ zu entkommen.
Eine weitere Hilfe für das Anfangen bei «Zeitspuren» bestand darin, das zeitlich-formale Gerüst im voraus zu konzipieren. Ich entschied mich, das Ganze in fünf Sätze aufzugliedern, deren Dauern im Verhältnis von Fibonacci-Zahlen stehen. Dies bedeutet nichts anderes, als die sozusagen „ideale“ Proportionierung des Goldenen Schnitts auf das Verhältnis meiner Satzlängen anzuwenden. Ausgewählt habe ich folgende Dauern: 50, 80, 130, 210 und 340 Sekunden (jede neue Zahl besteht aus der Addition der beiden vorangehenden). Schon mit einigen zwar noch blassen Vorstellungen, was in den einzelnen Sätzen inhaltlich passieren könnte, entschied ich mich für folgenden konkreten Ablauf: 50 – 130 – 80 – 340 – 210 Sekunden. Tendenziell also ein Längerwerden der Sätze, aber nicht in einfacher Reihung, sondern indirekt mit dem kürzesten Satz am Anfang und dem längsten an vierter Stelle.
Aus dieser Perspektive liegt das Hauptgewicht auf dem vorletzten vierten Satz, womit er für mich zum Träger eines Adagio-Satzes wurde, dem ich eine zentrale Bedeutung zumessen wollte, da ich von der Innigkeit und Gefühlstiefe Beethovenscher Adagios immer wieder sehr berührt wurde. Das Referenz-Adagio aus Beethovens Klaviertrio-Musik fand ich im dritten Satz des „Erzherzog“-Trios op. 97, dessen Tonart und Anfangs-Motivik hier eine bestimmende Rolle spielt. Die Verinnerlichung der Musik in diesem langsamsten Zeitmass, ein quasi Innehalten, In-sich-Hineinhören und ebenso aber auch über das „Aussen“ Reflektieren, bildet wohl das inhaltliche Zentrum der «Zeitspuren».
Von diesem Ankerpunkt aus definierte ich dann die Charaktere der weiteren Sätze, die durch Untertitel angedeutet sind: I Präludium (Spiegel), II Farben, III Scherzo burlesco, IV Adagio molto cantabile, V Jumpin.
Im Hinblick auf die Beethoven-Spuren ist noch der Übergang vom dritten zum vierten Satz erwähnenswert: mein Scherzo, das sich vor allem auf das Kopfmotiv des Anfangs aus Beethovens „Geister“-Trio op. 70 Nr. 1 bezieht, wendet sich gegen Schluss mehr und mehr der Motivik des Scherzos aus op. 97 zu, um schliesslich praktisch wörtlich wie Beethoven abzuschliessen. Mit andern Worten, das Ende von Satz III und der Anfang von IV sind fast direkte Beethoven-Zitate. So nahe komme ich der Musik meines hochverehrten Vorgängers nie mehr – welche verschlungenen Andeutungen an anderen Stellen noch hörbar sind, mögen geneigte Expertenohren herausfinden.
Und schliesslich bildet der abschliessende fünfte Satz nicht nur einen teilweise vertrackten rhythmischen Kehraus mit Temposprüngen, Jumpin, sondern „zitiert“ nochmals einzelne Stadien der Beethoven-Anklänge der Sätze I, III und IV – Zitate der Zitate: Ein veritables Rätsel-Kaleidoskop mit vielfältigen zeitlichen und historischen Spiegelungen.
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