Streams
Streams, Doppelkonzert für Klarinette, Bassposaune und 17 Instrumente, 2010
Orchesterbesetzung: Flöte, Oboe (auch Englischhorn), Altsax (auch Baritonsax), Fagott (auch Kontrafagott), Horn, Trompete, Klavier, Schlagzeug, 2 1.Violinen, 2 2.Violinen, 2 Violen, 2 Celli, 1 5-saitiger Kontrabass
18:30′
Orchestermaterial bei Edition Kunzelmann
Uraufführung: 17. August 2013, im Schlusskonzert des PARMA Music Festivals 2013, in The Music Hall, Portsmouth New Hampshire, USA (Matthias Müller, Klarinette, David Taylor, Bassposaune und das PARMA Orchestra: Lisa Hennessy, Flöte, Jennifer Slowick, Oboe, Philipp Stäudlin, Altsax, Margaret Phillips, Fagott, Kevin Owen, Horn, Andrew Sorg, Trompete, Robert Schulz, Perkussion, Karolina Rojahn, Klavier, Sarita Uranovsky und Shaw Pong Liu, 1. Violine, Sasha Callahan und Colin Davis, 2. Violine, Peter Sulski und DimitarPetkov,Viola,Leo Eguchi und Jing Li, Cello, Tony D’Amico, Bass; Leitung: John Page).
Bilder der Uraufführung. Links: ganzes Orchester, rechts: Matthias, Martin und David.
2. bis 3. Juni 2011, Aufnahmen für PARMA Recordings im Futura Productions Studio in Boston, mit Matthias Müller, Klarinette, David Taylor, Bassposaune und dem PARMA Orchestra unter der Leitung von John Page. Produzent: Andy Happel. Erschienen auf der CD Streams.
Hörbeispiele
Streams fällt im Werkkatalog Martin Schlumpf’s in doppelter Hinsicht auf: einerseits gattungsmässig, zum ersten Mal schreibt er ein Doppelkonzert und andrerseits was die Auswahl der Soloinstrumente betrifft, stellt doch die Wahl von Klarinette und Bassposaune eine zwar exquisite aber auch äusserst seltene Kombination dar.
Der Grund für die Wahl dieser Instrumentenkombination liegt darin, dass Schlumpf dieses Konzert für seine beiden Freunde Matthias Müller und David Taylor geschrieben hat, wobei das Zusammentreffen von Müller und Taylor Ende 2009 in New York und die darauf folgende begeisterte Reaktion und Rückmeldung von Müller an Schlumpf diesen bewogen hat, den ursprünglichen Plan eines „normalen“ Klarinettenkonzerts zugunsten der nun vorliegenden Besetzung zu ändern. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Schlumpf David Taylor schon 1987 in der internationalen Improvisations-Band „Cadavre exquis“ kennengelernt hatte, wo sie zusammen auf Tournée waren.
Stücke für befreundete MusikerInnen zu schreiben stellt für Schlumpf’s Schaffen sicherlich den Normalfall dar. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang seine Freundschaft mit Matthias Müller. Seit dieser Ende der 90er Jahre ebenfalls an der Zürcher Hochschule der Künste zu unterrichten begann, hat Schlumpf eine ganze Reihe von Werken für ihn geschrieben: „Cumuli III“, „Rattaplasma 2“, „Atemspuren“ und „pulsar_1“. Zudem war Müller auch an der wichtigen Uraufführung von Schlumpf’s „Trio für Klarinette, Cello und Klavier“ beteiligt.
Für Freunde zu komponieren heisst natürlich auch, ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Besonderheiten und Stärken in ein besonderes Licht stellen zu können. Dies hat unter anderem im vorliegenden Fall dazu geführt, dass Schlumpf im Zentrum des Werks eine strukturierte Improvisation der beiden Solisten eingebaut hat (parts D and E). Ein solches Unterfangen birgt natürlich verschiedene Risiken. Einerseits ist nicht genau planbar, was die Solisten dann im Moment spielen werden und andrerseits sollte sich der Improvisationsteil von seinem Duktus her nicht zu sehr von den durchkomponierten Teilen unterscheiden, damit das Stück formal nicht auseinanderfällt.
Der ersten Gefahr ist Schlumpf mit der Massnahme entgegengetreten, dass er den Verlauf der Improvisation mit gezielten verbalen Angaben in einem groben Ablauf festgelegt hat. Zusätzlich sind an Schlüsselstellen auch bestimmte Einsätze nach Pausen genau definiert worden. Der zweiten Gefahr ist er durch eine Notationsweise im Orchester begegnet, die rhythmisch/metrisch oft nicht genau definiert ist, sondern bestimmte Interventionen der Orchesterinstrumente entweder von Ereignissen in den Improvisationen abhängig macht oder einfach global innerhalb einer gegebenen Zeiteinheit definiert. Der Dirigent schlägt dann keine Takte sondern markiert nur die Grenzen dieser Einheiten.
Weiter gibt es aber auch ganze Passagen von genau durchkomponierter Musik, was dem ganzen über fünf Minuten dauernden Improvisationsblock ein ausserordentlich vielfältiges Gesicht gibt. Es darf aber nicht nur von Gefahren gesprochen werden, die mit einer Improvisation innerhalb einer Komposition aufkommen könnten. Die eigentliche Motivation des Komponisten, dies zu tun, besteht natürlich in der ausserordentlichen Faszination, mit dieser Massnahme einen Raum zu schaffen, wo die improvisierenden Musiker mit sehr weitgehenden Freiheiten auf ihr musikalisches Umfeld ganz spontan reagieren können: wenn dies gelingt, sind Resultate möglich, die niemals in der auskomponierten Musik möglich wären!
Schliesslich markiert das Ende des Improvisationsteils (Anfang part F) eine der formal wohl auffälligsten Stellen im ganzen Werk: Nach intensiven Trillern und rasenden Figurationen in den allerhöchsten Lagen bricht die Musik bei gleichbleibend sehr lauter Dynamik bruchartig in die tiefsten Lagen ab. Synchron mit dem extremen Registerwechsel kommt es auch zu einem starken Umschwung in der Bewegungsdichte der Musik: von äusserst bewegt zu intensiv gehalten. Dieser Höllensturz zeigt sinnbildlich das Bestreben Schlumpf’s, mit seiner Musik an die Grenzen der Ausdrucksfähigkeit gehen zu wollen.
Das Bruchartige hingegen sticht als Einzelfall heraus. Alle übrigen sehr klaren Zäsuren wie der Beginn der Improvisation (Anfang part D) sowie der Beginn der Coda mit der „Doppelgänger“-Musik (Anfang part G) sind gekennzeichnet als organische Hinführung zu einem Ziel. Und auch die Gestaltungsweise aller übrigen Teile ist weitgehend immer „fliessend“, in variativer Entwicklung begriffen.
Dabei ist ein für Schlumpf charakteristisches Mittel dieser Variativität im Kontinuum die Technik der Temposprünge (an andern Orten auch metrische Modulation genannt). Besonders gut zu verfolgen ist dies im part F. In zehn Schritten wird hier das Anfangstempo immer wieder in einer Weise beschleunigt oder verlangsamt, die einfachen ganzzahligen Proportionen folgen. Nehmen wir an, das Tempo springt im Verhältnis 3:2, so heisst dies, dass das Tempo einer Achtelstriole im ersten Teil gleich ist dem Tempo eines Achtels im zweiten Teil. Mit andern Worten, das Metrum oder die Zählzeit hat sich im Verhältnis 3:2 beschleunigt, wobei aber eine wichtige Gruppe von rhythmischen Werten im Tempo gleich bleibt. Dies ermöglicht fliessende Übergänge. Auch unabhängig von diesen technischen Erklärungen ist dies gehörsmässig gut nachvollziehbar: Bei genauem Hinhören spürt man plötzlich, dass man die Musik anders „zählt“ – wenn man dazu tanzen würde, hätte man das Gefühl, den Schritt beschleunigen zu müssen, ohne aber eine genaue Grenze des Übergangs festhalten zu können.
Besondere Erwähnung verdient schliesslich noch die Gestaltung des Schlussparts G, einer Art langgezogene Coda, die auf sehr eigenständige Art und Weise auf die Musik von Schubert’s Lied „Der Doppelgänger“ aus dem Schwanengesang Bezug nimmt. Im einführenden Booklet-Text ist bereits darauf hingewiesen worden, wie sowohl im Konzertieren von Taylor als auch der Unterrichtspraxis von Schlumpf dieses Lied eine ganz besondere Rolle spielt. Hier aber soll nun noch diese Art des „Zitierens“ kurz in einen Kontext im Schlumpf’schen Komponieren gebracht werden.
Schon in früheren Stücken tauchen Zitate in Schlumpf’s Werken auf: 1982 in „Ostinato II“ Bruchstücke aus Mahler Sinfonien, 1991 in „Winterkreis“ (2007 zu „Sommerkreis“ bearbeitet) verschiedene Zitate von Ives, Eisler, Beethoven u.a. Bis dahin erscheinen diese Zitate wörtlich, sie haben einen weitgehend programmatischen Charakter. Später wechselt die Funktion des „Zitierens“: die Originale werden vielfach umgeformt, die Musik kreist sozusagen um das Original herum, ohne dass dieses in jedem Fall erkannt wird. So auch hier. An keiner Stelle ist die Musik mit dem Lied identisch, jedoch an vielen Stellen ist sie ihm sehr nahe. Dadurch wird eine Art Grundgestus des Schubert’schen Originals in die Tonsprache Schlumpf’s hineinverwoben. Man spürt den Schmerz, eine traurige Hoffnungslosigkeit und Abgründigkeit. Die Bassposaune bekommt hier als „Sänger“ des Liedes und als Instrument, das bis in abgründige Tiefen spielen kann, nochmals eine ganz besondere Rolle.
Damit aber endet das Stück nicht. Der Schlumpf’sche „Klang der Welt“ ist ein anderer, als derjenige Schuberts.